Was es bedeutet, erwachsen zu werden

Was es bedeutet, erwachsen zu werden

Cem Özdemir, grüner Landwirtschaftsminister, hat vor kurzem etwas für einen Politiker Ungewöhnliches gesagt:
„Sie müssen nicht jeden Blödsinn glauben, den sie denken.“ Ein kluger Satz.

Viele Menschen sind tatsächlich von ihren Gedanken und den damit verknüpften Emotionen eingenommen, so dass ihr innerer Horizont ständig erfüllt ist von Sorgen, Wünschen, Ideen, Ängsten, Wut, Euphorie usw.
Und sie glauben, ihre Gedanken und Gefühle seien sie selbst.

Aber ist das wahr ?

Die meisten Menschen sammeln sich Überzeugungen zusammen, die ihrer inneren Verfassung entsprechen oder sie glauben Dinge, die uns unsere Eltern, die Gesellschaft oder Menschen, die uns wichtig sind, erzählt haben.
Wenn also unsere Grundverfassung Wut ist, dann sammeln wir Glaubenssätze, die unsere Wut widerspiegeln: „Man muss ein Schwein sein in dieser Welt“, „Der/dem/denen zeige ich mal, wo der Hammer hängt“ usw. Oder uns ist beigebracht worden, Familie sei das Wichtigste, Abtreibung sei Mord oder was auch immer.

Hat das irgendetwas mit dir zu tun ?
Wählst du wirklich, was du glaubst und was du fühlst ?

Tatsächlich hat das hat nichts mit Wahrheit zu tun oder mit Authentizität, nur mit Vorlieben, Vorstellungen, Denkgewohnheiten oder emotionalen Gewohnheiten. Es ist eine Art Trance, und für viele ist es ein Alptraum.

Erwachsen werden heißt nicht, Pflichten zu erfüllen und gesellschaftlichen Ritualen zu folgen.
Erwachsen werden heißt, aus der Identifikation auszusteigen mit all dem Zeug, das du denkst und glaubst, und es zu überprüfen.
Es heißt, innerlich zurücktreten zu können und dir selbst dabei zuzuschauen, was du denkst und was du fühlst.
Es heißt, die Verantwortung für dich zu übernehmen, wirklich bei dir zu sein, dich zu lieben, zu lehren, zu unterstützen, zu ermutigen, zu begrenzen.
Wie eine gute Mutter oder ein guter Vater sich auf ein Kind beziehen würde braucht es dich, um dich auf dich selbst zu beziehen.
Du brauchst dir zu zeigen, dass Gedanken nie „wahr“ sind, sondern eben nur Gedanken. Und Emotionen sind nicht „authentisch“, sie sind nur ein unbewusster Reflex auf eine Situation oder auf unsere eigenen Gedanken.
Und du kennst bestimmt diese endlosen Gedankenschleifen, die manchmal deine gesamte Aufmerksamkeit binden.

Wir können lernen, ihnen unsere Aufmerksamkeit zu entziehen – das ist wie ein Aufwachen aus dem besagten Alptraum.
Solange wir nicht innerlich zurücktreten von zwanghaften Gedankenmustern, Bewertungen und Kommentaren zu Ereignissen oder Menschen sind wir unbewusst.
Wenn wir uns selbst nicht reflektieren, sondern identifiziert sind mit unserem Gedanken- und Gefühls“zeug“, sind wir nur ein Bündel unbewusster Reflexe, und in uns ist niemand zuhause.

Denken ist eine wundervolle Fähigkeit, aber wann denkst du wirklich bewusst und aktiv – und wie oft bist du nur hypnotisiert von Gedankenketten und unreflektierten Urteilen in deinem Kopf ?
Über 90 % unserer Gedanken sind nutzloses Geschwätz, endlose Wiederholungsschleifen irgendeines Sermons.
Unser Ego, das dieses Geschwätz hervorbringt, lebt ständig in der Einbildung, bedroht zu sein, sich behaupten zu müssen oder sucht permanent nach der ultimativen Befriedigung, die es IMMER im Außen vermutet – eine Beziehung, eine Karriere, ein neues Produkt, eine Reise, eine Droge… aber dort ist die wirkliche Befriedigung nicht zu finden, egal wie oft uns die Werbung das glauben machen will.

Bei-sich-sein ist nicht nur eine Metapher, es ist eine ganz konkrete Aktivität:
Wir treten bewusst innerlich zurück und werden zu einem freundlichen Beobachter unserer selbst – und dieser Beobachter ist nicht bewertend, er ist geduldig, freundlich, behutsam, einladend oder auch begrenzend, wenn wir erkennen, dass wir gerade im Begriff sind uns selbst oder anderen zu schaden.
Dieser Beobachter in uns schafft eine innere Weite, eine Gelassenheit, die mit einiger Übung nur noch schwer zu erschüttern ist und uns eine echte psychische und mentale Stabilität verleiht.
Er erlöst uns von dem innerem Druck, irgendwie „richtiger“ sein zu müssen, eine Ich-Show zu inszenieren, die anderen ein Bild von uns verkaufen soll.

Wir können unsere Maske abnehmen und wirklich frei, entspannt und selbstbestimmt leben.